Am Anfang des 21. Jahrhunderts

Montag, Dezember 05, 2011

taz-Artikel "Kalter Putsch der Experten"

Das Kriterium für gutes Regieren lautet, wie reagieren die Märkte

Kalter Putsch der Experten

Kommentar von Oliver Nachtwey (erschienen in der taz, 5.12.2011)

Es fiel kein Schuss, keine Soldaten marschierten, kein Parlament wurde von Panzern belagert. Für den weichen Staatsstreich, der jüngst in Griechenland und Italien stattgefunden hat, war nichts dergleichen notwendig. Die Finanzmärkte haben mithilfe der Parlamente geputscht.

Es fing damit an, dass der griechische Premier Giorgos Papandreou die seinem Land aufgezwungenen Sparmaßnahmen zur Abstimmung stellen wollte. Die Börsenkurse stürzten, blankes Entsetzen machte sich bei den führend politischen Eliten breit. Papandreou konnte seinen Vorschlag keine 24 Stunden aufrechthalten, unter dem internationalen Druck zerbrach seine Regierung, er musste zurücktreten. Nur kurze Zeit später wurde Silvio Berlusconi aus dem Amt gedrängt.

Den italienischen Ministerpräsidenten konnten keine Oppositionsbewegung, kein Skandal, keine Anklage aus dem Amt bringen. Seine Regierung hatte sich zuvor schon der Überwachung durch den IWF unterworfen, aber erst der dramatische Zinsanstieg auf italienische Staatstitel und der Druck der Finanzmärkte zwangen ihn zum Rückzug. Man braucht Berlusconi keine Träne nachzuweinen. Gleichwohl verdeckt die Erleichterung über den Abgang des italienischen Hasardeurs, welchen Schaden die Demokratie und ihre Prozesse genommen haben.

Statthalter der Finanzbranche

De facto übernahm die nicht gewählte "Frankfurt Group" in beiden Ländern das Ruder. Neben Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Sarkozy gehören ihr der neue Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, die IWF-Direktorin Christine Lagarde, der Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso, der Vorsitzende der Eurogruppe Jean-Claude Juncker, der Vorsitzende des Europäischen Rats und der europäische Wirtschaftskommissar Olli Rehn an.

Die schnell installierten Regierungen der nationalen Einheit in Griechenland und in Italien sind deshalb ein weicher Staatsstreich, weil in der Hülle der Experten und Technokraten jetzt Statthalter der Euro-Finanzmärkte, des Bank- und Industriekapitals direkt die Macht übernommen haben. Der neue konservative griechische Premier Lucas Papademos war Chef der griechischen Zentralbank und später Vizepräsident der Europäischen Zentralbank.

Italiens neuer Premier Mario Monti ist ein ehemaliger EU-Kommissar und Berater von Goldman Sachs. Seine Regierungsmannschaft stellt er als Kabinett aus Experten dar, doch vor allem ist es ein Kabinett der Banker: Der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Corrado Passera, war zuvor Chef der zweitgrößten Bank Italiens und hat seine Karriere bei der Unternehmensberatung McKinsey begonnen. Die Ministerin für Arbeit und Soziales, Elsa Fornero, sitzt im Aufsichtsrat der gleichen Bank. Der neue Tourismusminister, Piero Gnudi, gehört zum Vorstand des Arbeitgeberverbands.

Postsouveräne Parlamente

Es ist befremdlich: Nach der Finanzkrise 2008 hatte man erwartet, dass die Banken reguliert und ihre Macht eingeschränkt würden. Keine drei Jahre später haben die Banker in Italien und Griechenland die politische Macht übernommen. Griechenland und Italien sind nun ein finanzpolitisches Protektorat der "Frankfurt Group". Ihre Statthalter Monti und Papademos wurden erzwungen, sie sind keine gewählten Abgeordneten, haben sich keinen allgemeinen Wahlen ausgesetzt, ihr Programm wird der Bevölkerung nicht zur Abstimmung gestellt. Monti will das auch in der nahen Zukunft nicht tun. Bis 2013 plant er im Amt zu bleiben. In ihren ersten Amtshandlungen verantworten sie sich vor den eigentlichen Herren: der EU-Kommission, Merkel und Sarkozy.

Bereits vor einigen Wochen hatte ein Autor des Wirtschaftsmagazins Forbes einen militärischen Staatsstreich als Lösungsmöglichkeit für Griechenland in Betracht gezogen, in der Financial Times war ein Wirtschaftsprofessor mit der nun gefundenen Lösung hochzufrieden: "Weniger Demokratie tut Pleitestaaten gut", lautete die Überschrift seines Artikels. Wir haben die nächste Stufe der Postdemokratie, einen Strukturwandel der repräsentativen Demokratie, erreicht.

Staatsstreiche auf Zeit

Nicht nur Staaten, sondern auch die Parlamente sind postsouverän geworden. Es handelt sich nicht um Diktaturen, sondern um Finanzmarkt-Staatsstreiche auf Zeit. Statt Gewalt herrschen Sachzwang, Haushaltsdisziplin und Expertentum. Parlamente und Parteien haben sich gänzlich der Logik der Märkte unterworfen und ihnen ihre hoheitlichen Kompetenzen überlassen. Das Kriterium für gutes Regieren lautet nun: Wie reagieren die Märkte?

In den Krisenstaaten, aber auch sonst in Europa erleben wir einen Strukturwandel des Parlamentarismus. Es gibt keine relevante Opposition mehr, die Parteien der linken Mitte stemmen sich nicht gegen die Entleerung der Demokratie, sie gestalten sie mit. Die Allparteienregierung in Griechenland und die Regierung der Experten werden von einer großen Mehrheit der Parlamentarier getragen, die aber nicht mehr nach den Interessen der Bevölkerung fragen.

Die Weimarer Republik ging unter anderem deshalb unter, weil sie der Wirtschaftskrise nicht Herr werden konnte, aber vor allem wegen ihrer eigenen demokratischen Degeneration. Die Kabinette der Experten sind kein Weg aus der Krise, sondern ihr Kennzeichen. Bereits im Jahr 1925 bildete Hans Luther eine Regierung der Fachleute. Luther stand rechts, sein explizite Parteilosigkeit wertete der Historiker Heinrich-August Winkler bereits als "Symptom der Krise" des Parteienstaats.

Heute fehlt es nicht an parlamentarischen Mehrheiten wie zu Weimarer Zeiten. Die Notverordnungen, mit denen später Heinrich Brüning die Republik zu seinen drastischen Sparprogrammen zwang, wird heute über die postdemokratische Finanzkratie, die Herrschaft der Banken und der Euro-Elite, durchgesetzt. Aber die zentrifugalen Kräfte fehlender Legitimation für die Regierungspolitik haben Europa bereits jetzt an den Abgrund geführt. In Krisenzeiten werden die wahren Machtverhältnisse offengelegt. Die Kabinette der Technokraten sind die Regierungen der 1 Prozent

Oliver Nachtwey

Oliver Nachtwey ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Er hat seine Dissertation über "Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie" geschrieben und veröffentlicht gelegentlich in der taz, der FAS oder der Welt.

Mittwoch, August 31, 2011

Westerwelles richtige Entscheidung

Gnädigerweise hält die FDP jetzt also doch an ihrem, d.h. vielmehr dem deutschen, Außenminister Westerwelle fest. Der war in die Kritik geraten, weil er ausnahmsweise einmal eine richtige Entscheidung getroffen hatte und diese auch nach dem (zumindest vorläufigen) militärischen Sieg des libyschen Volkes über das Gaddafi-Regime verteidigt hat. Sicherlich mag Westerwelles Behauptung, dass Gaddafi an den deutschen Wirtschaftssanktionen gescheitert sei, etwas weit hergeholt sein.
Dennoch stellt die in diesem Fall von Westerwelle vertretene Linie den richtigen Umgang mit diktatorischen Regimes dar - sofern sie denn langfristig und konsequent durchgeführt wird (dies müsste natürlich streng genommen ausnahmslos für alle Diktaturen gelten - woraufhin sich dann die Frage eröffnet, nach welchem Kriterium ein Staat als "Diktatur" zu bewerten ist usw.; aber lassen wir diese Fragen einmal beiseite):
- wirtschaftliche und diplomatische Sanktionen gegen Diktaturen - d.h. also etwa auch keine Öl-Geschäfte mit diesen
- aber keine direkte militärische Interventionen
- hingegen logistische, diplomatische und finanzielle Unterstützung der Oppositionsbewegungen.

Montag, August 29, 2011

Küppersbusch zur Lage Europas

Friedrich Küppersbusch in der taz vom 29.8.2011:

"Kohl ist damals ein Europa der Münzen gelungen - kein Europa der Menschen. [...]
Das "Heilige Europäische Reich deutscher Fasson" scheint ja die aktuelle Paranoia vieler zu sein, die Angst vor der ungezügelten Wirtschaftsmacht Deutschlands haben. Präziser: der ungezügelten Wirtschaftsmacht über Deutschland. Merkel badet aus, dass Europa keine Sozialordnung, keine humanistische Verfassung, keine Verfassungspatrioten hat. Oder sagen wir mal: Kohls Erbe."

Montag, Juni 13, 2011

"Die Rache der Empörten"

13.06.2011, taz
http://taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/die-rache-der-empoerten/

Demonstranten kündigen Klassenkompromiss auf
Die Rache der Empörten
KOMMENTAR VON MILTIADIS OULIOS http://www.blogger.com/img/blank.gif


Am Mittelmeer weht ein neuer Wind. In Tunis und Kairo hat er Diktatoren gestürzt - in Madrid und Athen rüttelt er an der parlamentarischen Demokratie in ihrer jetzigen Form. Die griechischen Aganaktisméni demonstrieren dagegen, dass ihr Staat nur die Interessen der Vermögenden bedient und die Spaltung zwischen Arm und Reich forciert. Das ist der Ausgangspunkt für den Zorn der "Empörten".
Seit über zwei Wochen kommen jeden Abend vor dem griechischen Parlament und an anderen zentralen Orten Griechenlands riesige Menschenmassen friedlich zusammen. Auf dem Platz der Verfassung ("Syntagma") in Athen finden Volksversammlungen statt, auf denen das Rederecht ausgelost wird und die live im Internet übertragen werden. Bemerkenswert wenig wird davon in Deutschland berichtet.
Wenn in Deutschland darüber diskutiert wird, ob "die" Griechen denn schon genug eingespart hätten, um sich die nächste Tranche von Hilfskrediten zu verdienen, wird die Gerechtigkeitsfrage ausgeklammert. Die aber stellen die Menschen auf dem Syntagma-Platz. Geht in einer Demokratie nicht alle Macht vom Volk aus? Nun, der Souverän meldet sich gerade zurück. Seine Botschaft: "Wir wollen nicht, dass unsere Zukunft über unsere Köpfe hinweg entschieden wird."
Regelmäßig reisen die Vertreter der Troika von EU, EZB und IWF nach Athen und sagen dem Premier Giorgos Papandreou, was er zu tun hat. Ergebnis: Der Staat hat im Innern längst den Zahlungsausfall erklärt. Es geht nur noch darum, die Schuldzinsen zu begleichen. Die Demokratie zur Bedienung von Zinsen auszuhebeln ist jedoch verfassungswidrig, sagen griechische Sozialverbände, die gegen die Kreditvereinbarungen vor dem Obersten Verwaltungsgericht geklagt haben. Nach über einem halben Jahr steht eine Entscheidung noch aus.

Teufelskreis der "Hell Debits"

Ist das Vorgehen der Regierung Papandreou und der internationalen Institutionen überhaupt legitim? Wir wissen spätestens seit Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008, dass wir eine globale Finanzblase haben. Deren Ursachen liegen in der virtuellen Vermehrung von Geld, das realwirtschaftlich nicht existiert. Und in der Anhäufung von Vermögen bei einem kleinen Teil der Weltbevölkerung. Es gibt Kapital, das weder verbraucht noch investiert werden kann und das dennoch profitable Anlagemöglichkeiten sucht. Es ist egal, ob dies zahlungsunfähige US-Hausbesitzer, irische Banken oder der griechische Staat sind.
Die Bevölkerung in Griechenland wird also gezwungen, den Gürtel immer enger zu schnallen, damit Zahlen im Computer von einem Konto aufs andere wandern können - für Geldwerte, die niemals bei realen Menschen zur Befriedigung realer Bedürfnisse ankommen. Hohe Schulden hatte der griechische Staat schon in den 90er Jahren. Explodiert sind sie aber erst nach der Einführung des Euro durch den Teufelskreis der "Hell Debits": Die staatlich kontrollierten griechischen Banken wurden zu willigen Abnehmern von immer mehr toxischen Staatsanleihen; Finanzakteure aus aller Welt reihten sich gern ein.

"Die verkaufen unser Land"

Die Weltfinanzkrise hat den griechischen Staat noch einmal 28 Milliarden Euro gekostet. Die "empörten Bürger" in Griechenland haben das Gefühl, dass sie zum Erhalt eines undurchschaubaren Finanz- und Schuldensystems immense Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. "Die verkaufen unser Land", lautet der gängige Slogan.
Das Establishment in Hellas distanziert sich geradeheraus von den "Empörten": Das seien doch alles Leute, die zuvor von der Vetternwirtschaft versorgt wurden und jetzt, wo es nichts mehr zu verteilen gebe, sauer würden. Nun, das stimmt sogar zum Teil. Vor allem aber sind die Empörten viele junge Leute, die sich darauf geeinigt haben, politische Parteien von den Versammlungen auszuschließen. Damit lehnen sie die politischen Parteien als Grundpfeiler der griechischen Vetternwirtschaft und der Selbstbedienung beim Staat ab.
Diese Leute schreien nicht nur "Diebe, Diebe!" in Richtung der Parlamentarier. Sie skandieren nicht bloß, dass sie die Schulden nicht bezahlen wollen, weil sie diese nicht gemacht hätten. Sie kündigen im Grunde auch den in Griechenland herrschenden Klassenkompromiss auf.
Der öffentliche Dienst ist der einzig nennenswerte Sozialstaat, den sich Griechenland geleistet hat und der zugleich die Gesellschaft spaltet. Wer in Hellas arbeitslos wird, bekommt nach einem Jahr gar nichts. Für den deutschen Hartz-IV-Satz gehen viele dort Vollzeit arbeiten. Die Sparpakete der Troika sind nun den öffentlich Bediensteten - den "Versorgten", wie es in Griechenland heißt - ans Leder gegangen, ohne den anderen eine Hoffnung anzubieten und die Reichen nennenswert zur Kasse zu bitten: Gemeint sind damit Banken, Versicherungen, vermögende Anleger und die griechischen Millionäre, die ihr Geld in der Schweiz oder auf den Kaimaninseln bunkern.

Papandreous Panikreaktion

Aus Angst vor einer Aussperrung durch die "Empörten" hat die griechische Regierung den Termin verschoben, zu dem das neue Sparpaket beschlossen werden soll. Weil Papandreou mit der parlamentarischen Opposition keine Einigung zustande bringt, brachte er sogar zwischenzeitlich eine Volksabstimmung ins Spiel.
Die Bewegung auf dem Syntagma-Platz geht unterdessen weiter. Auf den allabendlichen Versammlungen der besonders Engagierten wird mit viel Verve "direkte Demokratie" gefordert. Längst kursieren Vorschläge für eine neue Verfassung Griechenlands, die auf dem Platz zur Abstimmung anstehen: mit Direktwahl der Abgeordneten, der Abschaffung des Parteizwangs, einem Verbot für Parlamentarier, Beziehungen zu Unternehmen zu unterhalten, der Lockerung der Amnestie für Politiker bis hin zur Abstimmung von Gesetzen durch das Volk via Internet und SMS.
Vor einem Jahr hätten zum Tag des Generalstreiks wütende Massen beinahe das griechische Parlament gestürmt. Am Rande der Demonstration gab es drei Tote. Konzepte waren damals nicht zu erkennen. Diesen Vorwurf kann man den "Empörten" von heute nicht mehr machen - wir sollten sie ernst nehmen.


MILTIADIS OULIOS, 38, ist freier Journalist und lebt in Düsseldorf. Er arbeitet als Autor für den WDR-Hörfunk und für Zeitungen. Im WDR-Funkhaus Europa moderiert er die deutsch-griechische Radiosendung "Radiopolis".

Mittwoch, Juni 08, 2011

Die Spanier zeigen uns einen Ausweg

taz, 5.6.2011
Die Spanier zeigen uns einen Ausweg
Aufbruch der Vielen
KOMMENTAR VON RAUL ZELIK

Die Massenproteste von Madrid und Barcelona haben viele überrascht. Die spanische Gesellschaft hatte mit der Transición, dem Ende der 1970er-Jahre zwischen Franquisten, Königshaus und Linksparteien ausgehandelten Kompromiss zur Modernisierung des Landes, eine rasante Entpolitisierung erlebt. Und ausgerechnet diese Gesellschaft bringt heute neue Formen politischer Bewegung hervor?
Neu daran ist, dass der Widerstand gegen die Umverteilung von unten nach oben mit einer radikaldemokratischen Praxis im öffentlichen Raum verbunden wird. Man demonstriert gegen die Sparprogramme der spanischen Regierung, mit denen Spekulationsvermögen und - nicht zuletzt deutsche - Banken gerettet werden sollen. Man demonstriert aber auch gegen die real existierende Demokratie. "Wir lassen nicht länger zu, dass andere für uns sprechen. Wir wollen selber sprechen", lautet eine der zentralen Losungen der Revolte.
Die Demonstrierenden selbst haben ihren Protest in eine Reihe mit den arabischen Bewegungen gestellt und die Puerta del Sol als europäischen Tahrirplatz bezeichnet. Keine schlechte These: Soziale und politische Teilhabe sind auch in Europa uneingelöste Versprechen. Doch wohl noch interessanter als der Bezug zur arabischen Revolte sind die Parallelen zu den Bewegungen, die den lateinamerikanischen Kontinent in den vergangenen 20 Jahren verändert haben.

Es begann in Lateinamerika

Auch in Argentinien, Venezuela oder Kolumbien entzündete sich der gesellschaftliche Widerstand an einer Austeritätspolitik, mit der die Kosten der ökonomischen Krise nach unten abgewälzt wurden. Auch dort richtete sich die Wut gegen die Repräsentation der politischen und medialen Apparate: "Sie sollen alle abhauen", lautete das Motto in Argentinien 2001. Und in Venezuela stürmten die Bewohner der Armenviertel 1989 ganz einfach die Einkaufsmeilen, um sich jenen Wohlstand zu holen, den man ihnen immer versprochen hatte.
Und schließlich war, wie heute in Spanien, die politische Linke vor den lateinamerikanischen Revolten völlig marginalisiert gewesen. Das scheint kein Zufall zu sein: Gerade weil niemand beanspruchen konnte, die Ausgeschlossenen zu repräsentieren - weder Politik noch Gewerkschaften, Medien oder Intellektuelle -, fand die Gesellschaft, zumindest phasenweise, zum Kern der Demokratie zurück: zur Artikulation der Vielen.
Die Krise der Repräsentation hat nun offensichtlich also auch Westeuropa erreicht. Aber woran liegt das?
Der britische Politologe Colin Crouch erklärte den Legitimationsverfall der politischen Systeme in seinem vielbeachteten Essay "Postdemokratie" (2005) mit dem Erstarken der ökonomischen Lobbys, die den demokratischen Prozess gezielt unterlaufen. Das ist nicht falsch und bleibt doch an der Oberfläche. Folgt man Crouch, dann war nämlich in den Zeiten des Wohlfahrtsstaats noch alles weitgehend in Ordnung.

Zwei-Klassen-Demokratie

Das Problem aber ist grundsätzlicherer Natur. Da ist einerseits die Tatsache, dass die liberale Demokratie von einem Widerspruch durchzogen wird: Politische Gleichheit und Freiheit, wie sie die Demokratie postuliert, sind mit der real existierenden Ungleichheit im Kapitalismus nicht wirklich vereinbar. Am konkreten Beispiel wird das deutlich: Für Kapitaleigentümer hat die Presse- und Meinungsfreiheit eine reale Bedeutung; für den Hartz-IV-Empfänger hingegen handelt es sich um ein formales Recht. Denn auf politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse kann er faktisch keinen Einfluss nehmen.
Die bürgerlich-liberale Demokratie bleibt in dieser Hinsicht gepanzert. Parteien und parlamentarische Apparate sorgen dafür, dass der Widerspruch zwischen sozialer Herrschaft und politischer Gleichheit nicht eskaliert. Die Anliegen der Mehrheit werden zwar nicht vollständig ignoriert, aber sie werden herrschaftlich gefiltert. Als Wähler der Reformparteien erleben wir das regelmäßig: Die von uns gewählten Regierungen machen jene Politik, die wir doch eigentlich abgewählt haben. Rot-Grün führte Deutschland in den Krieg und setzte Hartz IV durch, in Berlin hat der rot-rote Senat die Privatisierung des öffentlichem Eigentums forciert.
Darüber hinaus haben wir es aber auch mit einem allgemeinen Widerspruch zu tun. Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos, der in den letzten Jahren zur führenden Stimme kritischer Theorie in Lateinamerika aufstieg, beschreibt unsere Gesellschaften als "Demokratien geringer Intensität", in denen "Inseln demokratischer Beziehungen in einem Archipel der (ökonomischen, sozialen, rassischen, sexuellen, religiösen) Tyranneien" angesiedelt sind.

Revolte gegen die Finanzmärkte

Die demokratische Revolution steht somit auch nach über 200 Jahren noch am Anfang. Aus all diesen Gründen fallen politischer Diskurs und Realität immer weiter auseinander.
Bislang hatte man den Eindruck, dass Europa auf diese Krise von Repräsentation und Politik nur mit unsolidarischen, rassistischen Reflexen zu reagieren weiß. Nur der Rechtspopulismus, der die Angst vor dem sozialen Abstieg gegen die gesellschaftlich Marginalisierten - gegen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Migranten - richtet, hat bisher von der Krise profitiert. Die "spanische Revolution" zeigt nun einen anderen Ausweg auf. Es ist möglich, solidarisch zu handeln und mit eigener Stimme zu sprechen.
In Lateinamerika haben die Revolten der letzten zwanzig Jahre, ebenso wie jetzt in Nordafrika, zu einem Bruch des politischen Systems geführt. Ein so eindeutiger Ausgang zeichnet sich in Europa nicht ab. Tatsächlich ist völlig unklar, ob und wie es mit der "Bewegung 15-M" weitergeht.
Trotzdem hat diese Bewegung, in Spanien wie anderswo in Europa, eine klare Perspektive. Wenn der Widerstand, der sich in Spanien und Griechenland zu artikulieren begonnen hat, sich ausbreitet, kann die Umverteilungspolitik der EU, die die Finanzkrise von den Bedürftigen bezahlen lässt, zu Fall gebracht werden. Die Revolte hat das Potenzial, die Macht der Finanzmärkte brechen. Das ist mehr, als sich jede Reformregierung heute realistisch vornehmen kann.


Raul Zelik ist ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Politologe. Derzeit lehrt er als Professor an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Zuletzt erschien von ihm "Nach dem Kapitalismus. Perspektiven der Emanzipation" (VSA Verlag, 2011).

Dienstag, Februar 01, 2011

"Arabischer Frühling" (taz)

Arabischer Frühling
Willkommen in der neuen Welt
(taz, 28.1.2011)

Seit 20 Jahren berichtet unser Korrespondent aus Ägypten. Aber was jetzt passiert, davon hätte er noch nicht einmal zu träumen gewagt. VON KARIM EL-GAWHARY

Die Staatsmacht versucht die Kontrolle über die Straßen wieder zu gewinnen. Foto: ap

KAIRO taz | Vor zehn Tagen stand ich am Flughafen in Tunis an der Passkontrolle. Der Beamte blätterte nicht, wie ansonsten in meiner Region üblich, grimmig in meinem Pass. Er würdigte mein Reisedokument kaum eines Blickes. Stattdessen drängte es ihn, sich mit den wenigen Ankommenden zu unterhalten. "Was hältst du von unserer Revolution?", leitete er die Konversation ein. Als ich ihm zulächelte und sagte, dass wir hoffen, in Ägypten demnächst etwas Ähnliches anzufangen, brachen bei dem Beamten alle Dämme. Er hielt einen langen Vortrag, wie stolz er auf die Tunesier sei. Um mich am Ende mit einem fröhlichen "Viel Spaß bei der Arbeit und pass auf dich auf" zu verabschieden. "Willkommen in der neuen arabischen Welt", dachte ich mir. Noch vor zwei Tagen war der gleiche Grenzbeamte ein Teil des Apparats des Diktators Ben Ali und hätte jedem Journalisten den Einlass verwehrt.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich wieder in meinem Haus in Kairo. Es sind keine zwei Wochen vergangen. Was ich dem tunesischen Grenzbeamten noch zur Aufmunterung gesagt habe, ist schneller Wirklichkeit geworden, als ich zu träumen gewagt hatte. Draußen auf den Straßen von Ägypten tobt die Revolte gegen das Regime des Präsidenten Husni Mubarak.

Zwei Jahrzehnte lang habe ich in dieser Region als Korrespondent gearbeitet. Es waren 20 Jahre der politischen Stagnation, unterbrochen von heftigen Krisen, zwei Kriegen im Irak, einem im Libanon und einem in Gaza.

Die Lieblingsgeschichten meiner Redaktionen handelten von den Themen al-Qaida und Islamisten. Gerade gestern musste ich lächeln, als ich im Fernsehen die großen Demonstrationen im Jemen gegen Präsident Ali Abdullah Saleh sah. Es ist genau ein Jahr her, da gab es kein anderes Thema, als den Weihnachtstag-Bomber, der versucht hatte, ein US-Verkehrsflugzeug in die Luft zu jagen. Der ganze Plott war im Jemen geplant, genauso wie später die gescheiterten Paketanschläge.

Jemen ist gleich al-Qaida, lautete das mediale Gebot des Tages. Und jetzt das. Friedliche Demonstrationen für einen Regimewechsel der nicht von Washington, sondern von den Menschen initiiert wird. Selbst Ussama Bin Laden, der normalerweise gern mit bizarren Videobotschaften die Ereignisse in der arabischen Welt von der Seitenlinie seines Verstecks kommentiert, hat es offensichtlich im Moment die Sprache verschlagen.

Und auch in Ägypten hatte das Jahr mit einem schlimmen Attentat begonnen. Das Jahr war noch keine Stunde alt, da sprengte sich jemand in einer koptischen Kirche in Alexandria in die Luft. Der Anruf ereilte mich, als ich von meiner Silvesterfeier in angeheitertem Zustand auf dem Weg nach Hause war. "Dieses Jahr kann ja heiter werden", dachte ich mir und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es im arabischen Drehbuch tatsächlich weitergeht.

Hätte mir jemand erzählt, dass demnächst das Regime Mubarak kurz vor dem Sturz steht, und Ben Ali wie ein Dieb bei Nacht aus Tunis flieht, ich hätte ihn wahrscheinlich auch wegen des Alkoholeinflusses hysterisch ausgelacht. Das ist keinen Monat her.

Es ist auch keinen Monat her, dass mein Telefon in Kairo heißlief und alle Redaktionen Geschichten über die Diskriminierung von Christen in Ägypten und der gesamten arabischen Welt einforderten. Am Freitag gingen die Ägypter erneut auf die Straße, um nach dem Freitagsgebet gegen das Regime zu protestieren. Das Schöne dabei: Über SMS wurden lange Listen verschickt, von welchen Moscheen die Proteste losgehen sollen.

Auf der Liste stehen aber auch zahlreiche Kirchen. Sie marschieren vereint gegen das verhasste Regime. Ein wenig war die gleiche Atmosphäre schon spürbar bei den Protesten nach dem Anschlag in Alexandria. Als vor allem junge Christen auf die Straße gingen, aber oft begleitet von muslimischen Jugendlichen, die damals schon gemeinsam gegen Mubarak protestiert hatten, weil das Regime sich nicht ausreichend um den Schutz der Kopten kümmert und sie im staatlichen Apparat diskriminiert. Anstatt aufeinander loszugehen, hatten sie schon damals ihren Ärger gegen das Regime gerichtet.

Sie hatten ihm sogar vorgeworfen einen muslimisch-christlichen Zwist zu schüren, um mit dieser Ablenkungsstrategie sich selbst an der Macht zu halten. Damals, als die Jugendlichen mit selbst gemachten Plakaten mit Halbmond, Sichel und Kreuz, "Nieder mit Mubarak" riefen, hätte man vielleicht schon ahnen können, was nur drei Wochen später geschehen wird.

"Unsere Jugendlichen rennen zehn Schritte voraus, und weder die Politik noch wir Journalisten kommen hinterher", hatte mir in Tunis der Chefredakteur einer Tageszeitung erklärt. Wie recht er hat. Diese Mischung aus Arbeitslosen, gut ausgebildeten Jugendlichen, Intellektuellen und Menschen aus allen Bereichen und allen Schichten, die sich den Regimewechsel jenseits aller Religionszugehörigkeit und sozialem Status auf die Fahnen geschrieben hat, angetrieben, aber nicht geführt, von einer neuen Facebook-, Twitter- und Blogger-Generation, ist etwas völlig Neues.

Bisher hat man im Westen für die arabische Politik eine einfache Rechnung aufgestellt. Es gab das Regime und die Islamisten, den Diktator oder die Moschee. Im Moment wird die politische Landschaft der arabischen Welt völlig umgepflügt, und keiner weiß, welche neuen Pflanzen aus dem Boden sprießen werden. Sie werden sich aber nicht mit den alten politischen Kategorien fassen lassen. Es ist nicht nur ein Politik-, sondern auch ein Generationswechsel, der hier gerade stattfindet. Und die neue Generation weiß zwar, wie sie mit dem Internet umgehen kann, aber sie ist noch nicht politisch organisiert.

Aber eines ist sicher, die politische Landschaft der arabischen Welt wird bunter. Und auch die Islamisten werden dort ihren Platz finden, wenngleich sie sicher nicht im säkularen Tunesien und wahrscheinlich auch in Ägypten nicht den größten Platz einnehmen werden. Es entsteht eine völlig neue politische Pluralität. Jenseits des Diktators und der Moschee.

Dass der Übergang kein leichter ist, zeigt der Vorreiter Tunesien, wo gerade darum gerungen wird, wie viel alte Garde man im Staatsapparat braucht, um sanft in die neue Zeit hinüberzukommen, ohne dem Alten die Chance zu geben, noch einmal Fuß zu fassen. Dass es ein Fehler ist, das Alte zu schnell vollkommen zu kappen, ohne etwas Neues aufgebaut zu haben, das war im Irak zu sehen, der nach der Auflösung der Baath-Partei, der Armee, der Polizei ins absolute Chaos gestürzt war.

In diesem Moment ist Ägypten fast vom Rest der Welt abgeschnitten. Die Internetleitungen sind gekappt, die Handynetzwerke unterbrochen. Es erinnert mich ein wenig an die Situation nach den letzten Wahlen im Iran, wo ich ebenfalls vor Ort berichtet habe. Das Kappen des Internets war der Beginn einer Kampagne des iranischen Sicherheitsapparats, die Oppositionsbewegung niederzumachen.

Aber auch in Tunesien hat man versucht, die Kommunikationswege der Jugendlichen zu unterbrechen. Ein junger Mann der damals heftig gegen das Regime gebloggt hat, ist heute der neue tunesische Minister für Jugend.


Der Domino-Effekt

17. Dezember 2010: Mit einer Protestdemonstration in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid nach der Selbstverbrennung eines von der Polizei schikanierten Kleinhändlers beginnt der tunesische Volksaufstand.

14. Januar 2011: Tunesiens Diktator Ben Ali flieht nach Saudi-Arabien. Bei den vorherigen landesweiten Protesten wurden nach Angaben der Nachfolgeregierung 78 Zivilisten getötet und 94 verletzt. Dazu kommen über 70 Opfer eines Gefängnisbrands und mehrere Tote unter den Sicherheitskräften.

15. Januar: Selbstverbrennung in Algerien, in der Stadt Boukhadra an der tunesischen Grenze. Zahlreiche weitere folgen in den nächsten Tagen in verschiedenen algerischen Städten und auch in Marokko und Mauretanien. Die meisten Opfer überleben.

16. Januar: 3.000 Menschen demonstrieren in Jordaniens Hauptstadt Amman. Ägyptens Außenminister Ahmed Abul Gheit nennt Spekulationen über eine Ausbreitung der tunesischen Revolution auf andere arabische Länder "absurd".

17. Januar: Ägyptische Polizei verhaftet einen Mann mit Benzinkanistern vor dem Parlament in Kairo aus Angst vor einer Selbstverbrennung. Demonstration gegen die Regierung in Oman.

18. Januar: Erste ägyptische Selbstverbrennung in Alexandria. Erste regierungsfeindliche Demonstrationen im Jemen.

21. Januar: Neue Demonstrationen in Jordanien.

22. Januar: Polizei in Algeriens Hauptstadt löst "Marsch für die Demokratie" in Algier gewaltsam auf und verhaftet mehrere Oppositionspolitiker.

25. Januar: Erste Großdemonstrationen in Ägypten, ausdrücklich nach tunesischem Muster. Niederschlagung der Proteste fordert drei Tote. Die Demonstrationen werden in den nächsten Tagen fortgesetzt.

27. Januar: Erneute Großdemonstrationen in Jemens Hauptstadt Sanaa.

28. Januar: Proteste in Ägypten erreichen ihren bisherigen Höhepunkt nach dem Freitagsgebet.

Sonntag, September 12, 2010

taz-Artikel zum Rechtspopulismus vom 11.9.2010

Antiislamismus und Rechtspopulismus
Sarrazins Untergang des Abendlandes

Europas Rechtspopulisten sind kaum religiös eingestellt, dafür von Abstiegsängsten erfüllt. Kern ihrer Erzählung ist die angebliche Distanz von Volk und Elite.
VON CLAUS LEGGEWIE / BERND SOMMER

Was wird Thilo Sarrazin mit seiner neuen Freizeit tun, die ihm nach der voraussichtlichen Abberufung aus dem Vorstand der Bundesbank zur Verfügung steht: sie zu neuen publizistischen Großtaten nutzen oder das Bauchgefühl der breiten Zustimmung, das er verspüren durfte, zu einer national-populistischen Bewegung formen? Die Ingredienzien einer solchen Bewegung, die schon in vielen Ländern Europas erfolgreich ist und in Österreich, Norwegen und in der Schweiz bis in die Regierung vorgedrungen ist, sind auch in Deutschland seit Langem vorhanden.

Franz Schönhuber hatte seinen Auftritt Ende der 1980er Jahre, als sich der Volkszorn noch gegen "Asylanten" richtete. Die NPD zog mit einem nationalsozialistischen Programm für die Vereinigungs- und Globalisierungsverlierer in ostdeutsche Landtage ein. Jürgen Möllemann gab seinem hochfliegenden "Projekt 18" einen antisemitischen Anstrich, und die Pro-Parteien (Pro Köln, NRW, Deutschland) mobilisieren gegen lokale Moscheebauprojekte und die "Islamisierung Europas".

Besonders weit sind sie damit alle nicht gekommen. Eine politische Kraft rechts von den Unionsparteien gilt in Deutschland als unanständig, und auf Bundesebene ist eine sechste Partei vorerst unwahrscheinlich. Eine Lebensversicherung für das politische System ist das nicht. Der Affekt gegen "den Islam" ist das stärkste Mobilisierungsmotiv seit Langem, wie die Sympathien für Thilo Sarrazin zeigen. Er kann auf eine Kultur des Ressentiments zurückgreifen und sich als Gegenspieler des Establishments präsentieren. Als Parteigründer fehlt Sarrazin freilich vieles: die charismatische Ausstrahlung, die Volkstümlichkeit, die Fernsehtauglichkeit, das politische Organisationstalent. Aber Sarrazin könnte die Tür öffnen für andere, die das bereitliegende Skript zu einem attraktiven Plot verarbeiten.

Der Kern der populistischen Erzählung ist die Gegenüberstellung von "Volk" und "Eliten". Sie unterstellt eine tiefe Kluft zwischen den einfachen Leuten, denen angeblich übel mitgespielt wird, und den Eliten, die angeblich nur in ihre eigene Tasche wirtschaften. Den ersten Auftritt dieser Art hatten Steuerrebellen wie in Dänemark Mogens Glistrup, die den Wohlfahrtsstaat attackierten. Warum, fragten sie rhetorisch, müssen die Leistungsträger einer Gesellschaft für die Schwachen zahlen, warum eine ausufernde Sozialbürokratie alimentieren?

Zwar fließt der größte Teil der Leistungen des Sozialstaates an eine mittelständische Klientel, aber auch der erstaunliche Erfolg der Westerwelle-FDP war diesem Ressentiment gegen den "anstrengungslosen Wohlstand" der Hartz-IV-Empfänger geschuldet. Es wird noch explosiver, wenn diese aus dem Ausland stammen und "in unsere Sozialsysteme einwandern", sagte einst bereits Helmut Kohl.

Zusätzlich befeuert wird der Populismus, wenn er jenseits sozioökonomischer Neidgefühle Verunsicherungen durch die soziokulturelle Entgrenzung aufgreift, also Ängste vor Überfremdung und Landnahme schürt. Aktuelle Ausdrucksform dessen ist die Mobilisierung gegen die "Islamisierung Europas", die lange verjährte Konflikte zwischen dem "christlichen Abendland" und dem "muslimischen Orient" wiederbelebt.

Die reale Gefahr, die von al-Qaida oder Hasspredigern ausgeht, "Ehrenmorde" und tatsächliche Integrationsdefizite werden zu einer populistischen Verschwörungstheorie verwoben, in welcher der Islam als eine vormoderne und gewalttätige Religion erscheint, die sich mit den Werten einer freiheitlichen Demokratie wie in Deutschland grundsätzlich nicht vertrage.

Passionierte Islamkritiker, wie sie sich etwa im Blog "Achse des Guten" aber auch im Onlinemagazin "Perlentaucher" artikulieren, tragen zur Verwischung der Grenze zwischen legitimer Kritik am fundamentalistischen Islam und einer diskriminierenden Hetze im täglichen Meinungskampf bei. Die von Ressentiments Erfüllten erhalten so die Möglichkeit, ihren Rassismus zu veredeln: Ihre Ablehnung alles Muslimischem habe schließlich gute Gründe, da "der Islam" per se frauen- und schwulenfeindlich, nach Herrschaft strebend und gewalttätig sei.

Einen Nerv hat Sarrazins Biologieunterricht da getroffen: Dem Verlust der sexuellen Reproduktionsfähigkeit der einheimischen Mittelschicht steht in dieser Sicht ein viriles Eroberervolk gegenüber, woraus ohnmächtige Reinigungs- und Vertreibungsfantasien resultieren. Die Aversion gegen die (vermeintlich allesamt tiefgläubigen) Muslime belegt einen Verlust an religiöser Glaubensfähigkeit und Bindung.

Und beides zusammen bildet den Stoff für Degenerationsgeschichten vom Untergang des "christlichen Abendlandes". Anhänger nationalpopulistischer Parteien und Bewegungen sind, wie man vom französischen Front National weiß, häufig sozial isoliert, weniger religiös eingestellt und von Abstiegsängsten und Minderwertigkeitsgefühlen erfüllt. Wer dafür hierzulande nach Belegen sucht, muss nur Internetforen vom Stil der Plattform "Politically Incorrect" aufsuchen, eines der meistgelesenen Politblogs in Deutschland.

Politisierbare Bruchstellen

Dort toben sich hilflose Wut und blanker Hass aus. Und wer immer Differenzierteres zum Thema Islam veröffentlicht, erhält sogleich Dutzende von Standardkommentaren und Hassmails. Stets in dem Tenor, man dürfe in diesem Land nicht mehr seine Meinung sagen. Die Verfasser stilisieren sich damit als Opfer angeblicher Meinungswächter und der politischen Eliten. Und damit korrespondieren die Märtyrerlügen eines Möllemann oder Sarrazin. Obwohl die Leitfiguren des Populismus in aller Regel betuchte Angehörige der Elite sind - die im Falle Jörg Haiders und seiner "Buberlpartie" offenbar Millionen Euro beiseitegeschafft haben -, erwecken sie den Eindruck, ähnlich marginal und verfolgt zu sein wie die "schweigende Mehrheit".

Politisierbar ist diese Sollbruchstelle des volksparteilich gesicherten Konsenses, wenn Themen und Personen eine politische Spaltungslinie aufreißen können. Solche Bruchstellen bildeten sich historisch an den Gegensätzen Stadt/Land, religiös/säkular oder am Konflikt zwischen Kapital und Arbeit beziehungsweise Markt und Staat heraus. Für solch große Konflikt- und Spaltungslinien war zuletzt wenig Platz, einmal abgesehen von der (schwachen) Linie, die zwischen "Ökologie" und "Ökonomie" verläuft und hier und da grüne Parteien erfolgreich gemacht hat.

Aber wenn Nationalpopulisten, die in den meisten westlichen Demokratien auf eine Zustimmung von durchschnittlich bis zu einem Fünftel der Bevölkerung rechnen dürfen, eine Konfliktlinie zwischen Nationalstaat und Weltgesellschaft und/oder Europa hochziehen könnten, würde ihr protektionistisches Programm zur politischen Währung (Stimmen). In Deutschland stand dem bisher die Nachhaltigkeit des antifaschistischen Konsenses und vor allem die Aggregationskraft der etablierten Parteien entgegen, die alle (bis auf die Grünen) in erheblichem Umfang Sarrazin-Anhänger in ihren Reihen haben.

Broder, Giordano, Kelek

Jenseits seiner Themen lebt der Populismus vom Antiparteienaffekt und der Verachtung der parteipolitischen Eliten, vom Wunsch, es "denen da oben" zu zeigen. Die Chancen einer islamfeindlichen populistischen Bewegung entscheiden sich nicht zuletzt daran, ob das deutsche Bürgertum seinen Integrationsauftrag im Blick auf muslimische Einwanderer noch erfüllen mag.

Islamkritiker wie Henryk Broder, Ralph Giordano und Necla Kelek, die Sarrazin beigesprungen sind, sollten sich wenigstens vom Sarrazinismus distanzieren. Und die Sprecher der Volksparteien sollten nicht den Eindruck erwecken, es habe dieser Provokation bedurft, damit sie offensichtliche Probleme des Einwanderungslandes nun endlich wahrnehmen und bearbeiten wollen. Dies geschieht bei verantwortungsbereiten Politikern und Wissenschaftlern seit Langem.

Samstag, September 04, 2010

Zur Lösung des Nahostkonflikts

Bei der aktuellen israelisch-palästinensischen Verhandlungsrunde wird wohl wieder mal nicht viel Konstruktives (jedenfalls nichts, was von Dauer wäre) bei herum kommen. Oder etwa doch? Immerhin reden sie ja miteinander..
Hier ein bisschen Zukunftsmusik zur Inspiration:

1. Israel räumt die besetzten Gebiete im Westjordanland, zieht alle Siedler ab, reisst die Grenzmauer ein (legal wäre sie, wenn überhaupt, nur auf eigenem Staatsterritorium), gibt auch die Golanhöhen an Syrien zurück und hebt die Blockade gegen Gaza auf.
2. Der Weg ist nun frei dafür, dass im Westjordanland endlich ein souveräner palästinensischer Staat entstehen kann. Man hätte zwei Staaten in den Genzen von 1967.
3. Was aber ist mit Gaza? Dieses kleine Stück Land ist vom Westjordanland abgetrennt. Wie wäre es mit einem Tausch?: Gaza fällt an Israel und Palästina erhält ein entsprechend großes Territorium an den Grenzen des bisherigen Westjordanlands?
4. Vertriebene Palästinenser erhalten ein Rückkehrrecht nach Israel.
5. Israel wandelt sich zu einem säkularen Staat, in dem allen Bürgern unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit die gleichen Rechte zukommen.
6. Israel erkennt die Souveränität Palästinas an, wie auch Palästina, die arabischen Nachbarn und der Iran die Souveränität Israels.

Mittwoch, Februar 10, 2010

Artikel "Mehr Ignorieren wagen"

Sehr schön! Omid Nouripur spricht mir aus der Seele (Artikel aus der Welt vom 9.2.2010):

Gastkommentar: Das iranische Atomtheater
Mehr Ignorieren wagen
Von Omid Nouripour 9. Februar 2010

Komödien kommen auf dem Theater immer wieder gut an, auch wenn die Bühne die Münchner Sicherheitskonferenz ist, und das Publikum hochrangige und hoch bezahlte Sicherheitsexperten aus der ganzen Welt sind: Bereitwillig ließen sie sich letztes Wochenende von den drängenden Fragen der internationalen Sicherheitspolitik ablenken, um aufmerksam, leider aber ohne das mindeste Schmunzeln, den Verlautbarungen des iranischen Außenministers zu lauschen. Aber Distanz zum iranischen Atomtheater täte not, und es wäre gut, die Farce als solche zu begreifen.

Am Donnerstag begeht der Iran den 31. Jahrestag der Islamischen Revolution, und die Opposition wird den Tag dazu nutzen, ihre Anliegen lautstark vorzubringen - eine Eskalation der Gewalt ist leider nicht auszuschließen. Doch die Debatte in der internationalen Gemeinschaft und auch in Deutschland beschränkt sich auf die Exegese der Atomfrage und übersieht, dass es sich beim rituellen Einlenken und Zurückrudern der iranischen Regierung vor allem um ein Ablenkungsmanöver eines geschwächten Präsidenten handelt. Es ist an der Zeit, dieses Spektakel ignorieren zu wagen und einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Dabei sollten uns drei Dinge auffallen:

1. Die Lage der Menschenrechte und die Atomfrage sind im Iran nicht voneinander zu trennen. Die Regierung Ahmadinedschad hat spätestens seit den gefälschten Parlamentswahlen vom 12. Juni 2009 das Vertrauen der Bevölkerung verloren. Die Oppositionsbewegung ernst zu nehmen ist ein wichtiger Beitrag, die Regierung zu schwächen. Die Menschenrechtsfrage ist die Achillesferse des Systems.

2. Wir müssen Ahmadinedschad als einen geschwächten Präsidenten begreifen: Seine Landsleute vertrauen ihm nicht, sein Land liegt wirtschaftlich danieder, und letztlich hat nicht er, sondern der Revolutionsführer Chamenei die Entscheidungsgewalt in Atomfragen.

3. Wir müssen die Strukturen der internationalen Verhandlungsführung, die Fünf-plus-eins-Runde, überdenken. Fühlt sich China von einer möglichen iranischen Atombombe überhaupt bedroht, und möchte Russland nicht viel lieber über die Aufteilung des Kaspischen Meeres diskutieren? Wenn wir effektiv gegen das iranische Atomprogramm und für die Menschenrechte handeln wollen, dann gehören andere Partner mit an den Tisch, etwa Irans Nachbarländer Türkei oder Aserbaidschan, die direkt bedroht sind, oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die Sanktionen gegen den Iran durch blühenden indirekten Handel unterlaufen.

Der Autor ist sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion

Donnerstag, Juni 04, 2009

Grüne Bewegung für Europa

Hier ist ein Link zur Website von Sven Giegold (attac), Barbara Lochbihler (amnesty international) und Gerald Häfner, die als Quereinsteiger für die Grünen zur Europawahl kandidieren:

http://bewegung-ins-europaparlament.de/

Vielleicht schaffen sie es ja, den Protest demokratischer Bewegungen ins Europa-Parlament zu tragen und so das staubige Geflecht von Berufspolitikern, Lobbyisten und Bürokraten aufzulockern.

Dienstag, Mai 26, 2009

Stern-Artikel über das "System Berlusconi" (26.05.09)

" [...]

Interessanterweise ist der größte Kritiker des "Systems Berlusconi" seit mehr als 30 Jahren tot. Pier Paolo Pasolini, visionärer Schriftsteller und Regisseur, prophezeite den Italienern bereits Mitte der siebziger Jahren ein System, das durch mediale Vermassung, blinde Vergnügungssucht und eine neue Art Diktatur charakterisiert sein würde, die totalitärer als der Faschismus sein würde. Italien, das für Pasolini viel zu schnell industrialisiert und ohne echte demokratische Reformen in das Industriezeitalter kapituliert worden war, würde sowohl seine kommunistischen, agrarischen Wurzeln als auch seine konservativen, katholischen Werte verlieren. Die "Macht ohne Gesicht", eine Kaste aus Politikern und Industriellen, "will ein Italien, in dem nichts die Massen daran hindern kann, zu konsumieren, ein Italien des 'Fortschritts', das lediglich jede authentische Kultur und jede authentische Kritik auslöscht."

[...]"

Geschichte wird gemacht (taz, 25.05.09)

Nach den Enthüllungen über den Todesschützen vom 2. Juni 1967 versuchen Konservative, die Geschichte der Studentenbewegung umzudeuten. VON CHRISTIAN SEMLER

BERLIN | taz Der Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg erschoss, hatte in seinen Prozessen wegen fahrlässiger Tötung Ende der Sechzigerjahre Verbündete, allen voran Springers Bild-Zeitung. Sein vorbildlicher Einsatz, hieß es, sei leider in einem von ihm nicht verschuldeten Unglücksfall geendet.

Wie schnell aus aufrechten Verteidigern der Freiheit gedungene Mörder werden - denn jetzt, nachdem Kurras Tätigkeit als IM der Staatssicherheit aufgeflogen ist, wird er zum Auftragsmörder, der gehorsam den Befehlen aus der Stasi-Zentrale folgte. In derselben Bild-Zeitung, die damals eine furchterregende Kampagne gegen die revoltierende Studenten führte, ist jetzt zu hören: "Unruhen und brennende Barrikaden, ja selbst der Tod von Rudi Dutschke haben ihren Ursprung direkt im Auftragsbereich von Erich Mielke, dem Stasi-Minister der SED (heute Linkspartei)." Man kann den delirierenden Autor Hans-Hermann Tiedje nicht unter der Rubrik "Berliner Absonderlichkeiten" verbuchen. Vielmehr geht es hier um ein groß angelegtes Manöver der historischen Mystifikation. Indem die Stasi - ohne jedes Indiz - zum Täter gemacht wird, kann die Verantwortung der Westberliner Eliten für den 2. Juni 1967 beiseitegedrückt werden.

[...]



Montag, Januar 12, 2009

taz-Artikel über Herkunft und Ziele der Hamas

Herkunft und Ziele der Hamas
Die Politik der Tunnel
Seit 2006 regiert die Hamas in Gaza. Es folgte ein internationaler Boykott. Innenpolitisch gelang es der Bewegung des islamischen Widerstands nicht, die Korruption einzudämmen. VON HELGA BAUMGARTEN

HAMAS-CHARTA
Im Januar 1988, zu Beginn der 1. Intifada, erscheint der Name Hamas erstmals auf einem Flugblatt. Die bis dahin eher karitativ-religiös agierende Muslimbrüderschaft tritt damit als palästinensische politische Organisation auf. Sie wird in den Anfangsjahren von Israel "gefördert", um sie als Gegengewicht zur PLO aufzubauen. Im August 1988 veröffentlicht die Hamas ihre Charta, die bis heute gültig ist und die grundsätzlichen Positionen der Hamas etwa zum Nahostkonflikt, zur Stellung der Frau, zum Dschihad oder auch zur PLO festlegt. Demnach lehnt Hamas eine Anerkennung Israels grundsätzlich ab und will auf dem gesamten ehemaligen Mandatsgebiet Palästina einen islamischen Staat errichten. In den Neunzigerjahren tritt die Hamas vor allem mit Selbstmordanschlägen gegen Israel in Erscheinung. Im Vergleich zur Charta erweist sich das Wahlmanifest der Hamas von 2005 als weitaus pragmatischer. Mit diesem Manifest tritt die Hamas im Januar 2006 erstmals bei einer Parlamentswahl an und erobert auf Anhieb die absolute Mehrheit der Mandate. Im Juni 2007 vertreibt sie die Fatah mit militärischen Mitteln aus dem Gazastreifen. Die USA, Israel und die EU betrachten die Hamas als Terrororganisation und boykottieren sie. GB


Seit dem 27. Dezember 2008 ist Krieg im Gazastreifen. Seitdem bombardieren israelische F-16-Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Kriegsschiffe fast ununterbrochen den kleinen Flecken Land am Mittelmeer, den weltweit wohl am dichtesten besiedelten Landstrich. Die israelische Regierung, allen voran Verteidigungsminister Ehud Barak, behauptet, die israelische Armee führe nur einen Krieg gegen die Hamas, einen - wie er sagt - Verteidigungskrieg gegen die Kassam-Geschosse aus Gaza.
Die Palästinenser im Gazastreifen dagegen erleben Tag für Tag und Nacht für Nacht, dass die israelische Armee alle eineinhalb Millionen Bewohner bombardiert, erbarmungslos. Welche Rolle spielt die Hamas in diesem Krieg? Woher kommt sie überhaupt und welches sind ihre Ziele?
Die Hamas (Bewegung des islamischen Widerstandes) gewann die palästinensischen Parlamentswahlen vom Januar 2006, also vor genau drei Jahren, und setzte sich damit zum ersten Mal ganz deutlich durch gegen die Fatah von Mahmud Abbas, Nachfolger von Jassir Arafat und seit dem Januar 2005 gewählter palästinensischer Präsident. Abbas hatte keine Alternative, als die religiös-nationalistische Hamas-Opposition nun mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Die politischen Ziele der Hamas waren deutlich artikuliert in ihrem Wahlprogramm, mit dem sie ihren erfolgreichen Wahlkampf führte: Beendigung der israelischen Herrschaft über die seit 1967 besetzten Gebiete, also Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen; Etablierung eines unabhängigen palästinensischen Staates auf eben diesem Gebiet, ein langfristiger Waffenstillstand mit Israel in den Grenzen vom Mai 1967. Den Abschluss eines Friedensvertrages wollte man zukünftigen Generationen überlassen. Innenpolitisch versprach die Hamas ein Ende der Korruption, transparente Regierung und eine auf die eigenen Möglichkeiten setzende nachhaltige ökonomische Entwicklung, mit dem Ziel, die Abhängigkeit von außen zusehends abzubauen.
Der vom Quartett (USA, EU, UN und Russland) und von Israel sofort nach den Wahlen implementierte Boykott der Hamas-Regierung vereitelte schon im Vorfeld jede Chance einer Umsetzung dieses Programms. Gleichzeitig schloss sich der Verlierer der Wahlen, die Fatah, diesem Boykott auf ihre eigene Weise an: Streiks gegen die neue Regierung, Vorbereitung eines Coups gegen die Hamas-Führung im Gazastreifen mit voller amerikanischer Unterstützung, Nichtkooperation einerseits und Propagandakrieg andererseits.
Eine erste Kulmination dieses Machtkampfes waren die bewaffneten Auseinandersetzungen im Gazastreifen im Sommer 2007. Aus diesen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Hamas-und Fatahverbänden ging die Hamas erfolgreich hervor. Seitdem wird der Gazastreifen von der Hamas voll und ganz kontrolliert. Eine bewaffnete Präsenz der Fatah gibt es nicht mehr. Alle Fatah-Führer mussten aus dem Gazastreifen flüchten. Im Sommer 2007 konnte die Hamas Ruhe und Sicherheit auf den Straßen Gazas herstellen. Zum ersten Mal seit Jahren konnten die Bewohner des Gazastreifens sich ohne Angst, zumindest vor palästinensischen Bewaffneten oder Kriminellen, bewegen. Aber das ist nur die Innenperspektive.Von außen war und ist der Gazastreifen hermetisch abgeriegelt. Das ganze Land ist ein einziges großes Gefängnis. Und immer wieder wurde dieses Gefängnis von der israelischen Armee angegriffen.
Durch diese vollständige Abriegelung Gazas, die die israelische Besatzung in Kooperation mit Ägypten den Menschen in Gaza aufoktroyiert, verelendete Gaza: Was von einer palästinensischen Wirtschaft noch übrig war nach den Jahrzehnten direkter Besatzung (Sara Roy spricht in diesem Zusammenhang von einer israelischen Politik der Ent-Entwicklung, "de-development"), wurde vollends zerstört, jede wirtschaftliche Aktivität, inklusive jeglicher Bautätigkeit, wurde durch die Verhinderung jeder Einfuhr unmöglich gemacht. Fast die gesamte Bevölkerung wurde zu Almosenempfängern der internationalen Gemeinschaft, vertreten durch das UN-Hilfswerk UNRWA (United Nations Relief and Works Agency). Die israelische Besatzung erlaubte ein Überleben - mit genau bemessenen Lieferungen, die Hungersnöte oder Seuchen gerade noch verhinderten. Ein menschenwürdiges Leben ist seit dem Frühjahr 2006 jedoch nicht mehr möglich.
Was war und was ist die Antwort der Hamas auf diese regelrechte Katastrophe? Innenpolitisch versuchte die Hamas, ihre politische Kontrolle zu etablieren und das politische und soziale Leben zu organisieren. Erfolgreich war sie bei der Durchsetzung der inneren Sicherheit und einer Grundversorgung, zumindest der Hamas-Anhänger. Die bisherige Politik der Hamas, alle Bedürftigen in Gaza ungeachtet ihrer politischen Anschauungen und ihrer Parteizugehörigkeit zu versorgen, ist dabei, wenn man Berichten aus Gaza glaubt, zusehends auf der Strecke geblieben. Auf der Strecke blieb sicher auch der Versuch, eine demokratische Transformation einzuleiten. Stattdessen verhielt sich die Hamas in Gaza ähnlich autoritär wie die Fatah im Westjordanland.
Außenpolitisch versuchte die Hamas, Unterstützung in der arabischen Welt zu finden, von Ägypten über Saudi-Arabien bis in den Golf und bis hin in den Iran. Diese außenpolitische Unterstützung sollte den Boykott durch das Quartett und durch Israel umgehen, durch aktiv eingeworbene finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung. Die Abriegelung der Grenzen brachte diese Politik fast zum Scheitern. Die Hamas antwortete mit einer "Tunnel-Politik": man grub unzählige Tunnel unter der Grenze zwischen Gaza und Ägypten und "importierte" durch diese Tunnel praktisch alles, jedoch nie in einem Umfang, der eine ausreichende Versorgung aller Bewohner und des gesamten Gazastreifens hätte ermöglichen können.
Gleichzeitig versuchte die Hamas, über die Einwerbung von politischer Unterstützung den Boykott auch politisch zu durchbrechen. Als "militärische" Flankierung dieser Politik, und dies ist die dritte Ebene, auf der die Hamas aktiv war und ist, hielt sie auch nach ihrem Schritt auf die Bühne der Politik an der Option des bewaffneten Widerstandes fest. Orientiert am Vorbild der Hisbollah im Libanon, versuchte man, politische Forderungen an Israel mit dem "Druck" der selbst gefertigten Kassam-Geschosse durchzusetzen. Eben damit aber begab sich die Hamas auf ein sehr gefährliches Terrain.
Sie forderte einen militärisch vollständig überlegenen Gegner eben auf dessen stärkstem Gebiet, nämlich der militärischen Auseinandersetzung, heraus. Die Logik war klar erkennbar und imitierte die Logik der israelisch-libanesischen Auseinandersetzung, wie sie die Hisbollah durchgesetzt hatte. Da ein militärisches Gleichgewicht nicht erreichbar war, versuchte man, ein Gleichgewicht des Schreckens herzustellen. Gegen die Bedrohung der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen durch die israelische Armee setzte man die Bedrohung der israelischen Zivilbevölkerung im Süden Israels. Auch dieses Gleichgewicht des Schreckens war und ist immer noch ein weitgehend asymmetrisches Macht-und Bedrohungsverhältnis. Aber die Hamas setzt darauf, dass auch militärische Nadelstiche auf die Dauer untragbar sind und Israel damit gezwungen wird, den palästinensischen Forderungen nachzugeben.
Immer wieder gelang es so, längere oder kürzere Perioden der Waffenruhe durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Immer wieder wurden diese "Ruhepausen" allerdings gestört, von der israelischen Armee und von der Hamas. Entscheidend sollte jedoch sein, dass die israelische Regierung zu keinem Punkt bereit war, die Blockade von Gaza aufzuheben und die Grenzübergänge zu öffnen. Vielmehr hat man, wenn israelische Zeitungsberichte und Analysen der vergangenen Tage korrekt sind, seit mindestens zwei Jahren systematisch und intensiv einen Krieg gegen Gaza unter der Hamas vorbereitet. Das Ende der Waffenruhe in der zweiten Dezemberhälfte bot nur den Anlass, den lange vorbereiteten Krieg zu beginnen.
Auf der palästinensischen Seite hat die Hamas sich ebenfalls, so der Augenschein, systematisch und intensiv, im Rahmen ihrer sehr begrenzten Möglichkeiten, auf diesen israelischen Angriff vorbereitet. Während jedoch die israelische Seite zwischen einer Politik der vollständigen Zerstörung der Hamas einerseits, der Durchsetzung von Ruhe und Sicherheit der israelischen Bevölkerung im Süden Israels vor palästinensischen Geschossen andererseits schwankt, sind die Forderungen der Hamas klar und deutlich: Ende des Krieges und Öffnung des Gazastreifens.
Experten weltweit sind sich einig, dass die Zerstörung einer politischen Bewegung und Organisation wie der Hamas mit ihrer starken und tiefen Verankerung in der palästinensischen Bevölkerung eine Illusion ist. Alle wissen, dass Verhandlungen über kurz oder lang aufgenommen werden müssen. Selbst die Konturen einer Lösung sind klar: Die Waffen müssen schweigen und der Gazastreifen muss geöffnet werden. Vor allem aber muss die nun im fünften Jahrzehnt andauernde israelische Besatzung beendet werden, um reale Grundlagen für den überfälligen Frieden zu schaffen. Der Teufelskreis der Gewalt muss dafür verlassen werden. Und das gilt für die israelische Armee ebenso wie für die Hamas.
Die Autorin lehrt Politikwissenschaft an der Universität Birzeit, Palästina. Zuletzt erschien ihr Buch zur Hamas: "Hamas. Der politische Islam in Palästina"

Donnerstag, November 13, 2008

Hans Mommsen im Deutschlandradio Kultur

Historiker Hans Mommsen zur Hysterie in den Medien und zur Haltung seiner Partei SPD

In scharfen Worten hat der Historiker Hans Mommsen die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das Scheitern der rot-rot-grünen Regierungspläne in Hessen kritisiert. Den Medien warf der renommierte Zeithistoriker vor, eine durch eine Kampagne "unsinniger Art" irrationale Ängste der Wähler vor der Linkspartei geschürt zu haben.

Dies sei das "Nachspiel eines hysterischen Antikommunismus" sowie ein "Irrationalismus, der selber eine Krankheit in dem politischen System der westdeutschen Bundesrepublik ist", sagte Mommsen.

Insbesondere kritisierte Mommsen, selbst SPD-Mitglied, die Haltung der SPD-Bundesspitze zur Zusammenarbeit mit der Linkspartei: "Ich halte diese blödsinnigen Versicherungen von Herrn Müntefering und Herrn Steinmeier an diese kranke deutsche Öffentlichkeit, sie würden nie mit dieser Partei koalieren, selber für einen Missstand."

Mommsen bedauerte das Scheitern des rot-rot-grünen Projekts in Hessen. Es wäre gut gewesen, "vorzuführen, dass das geht, ohne dass das einen Aufstand in Hessen hervorruft". Die Linke habe "spezifische Probleme", etwa in der Außenpolitik oder in der NATO-Frage, darüber müsse man reden, so Mommsen weiter, es sei jedoch unberechtigt, sie pauschal als "politisch nicht tragbar" abzuqualifizieren. "Alle müssen lernen, mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten."

Montag, August 18, 2008

OSZE statt NATO

Hier ein (gekürzter) Kommentar von Andreas Zumach zum Georgien-Konflikt (taz, 15.8.2008):

Der Konflikt mit Russland ist Teil eines globalen Kampfs um Öl und Gas.

Gemeinsames Haus in Flammen

KOMMENTAR VON ANDREAS ZUMACH

Mit seinem militärischen Vorgehen in und gegen Georgien hat Russland eindeutig gegen die UNO-Charta und das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Doch so notwendig diese Feststellung auch ist: angesichts der realen Machtverhältnisse wirkt die Verurteilung Moskaus hilflos - und aus dem Mund so mancher PolitikerInnen und Intellektueller in westlichen Hauptstädten wie Washington, Paris und Berlin, aber auch in Warschau oder Vilnius klingt sie auch scheinheilig und verlogen. Immerhin trägt man dort eine erhebliche Mitverantwortung für die Eskalation, die zu dem heißen Krieg auf dem Kaukasus geführt hat.

Am Drehbuch für diesen Krieg wird bereits seit Anfang der Neunzigerjahre geschrieben. Damals, nach dem Zerfall des Warschauer Pakts und der Sowjetunion, nahm der Westen zwar vorübergehend die Vision des sowjetischen Reformpräsidenten Michail Gorbatschow vom "gemeinsamen Haus Europa" auf. Die "Konferenz/Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit" (K/OSZE) solle zum "Herzstück der europäischen Architektur werden" hieß es in der "Charta für ein neues Europa", die 1990 in Paris von den Staats-und Regierungschefs aller 54 Mitgliedsstaaten der KSZE feierlich verabschiedet wurde. Doch es blieb bei der Rhetorik.

Andreas Zumach ist taz-Korrespondent bei den UN in Genf. Foto: taz

Tatsächlich haben die westlichen Regierungen seitdem systematisch die Nato gestärkt und sie nach Osten bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt, während sie die OSZE verkommen ließen. Statt Moskau mittels OSZE mit allen dort vereinbarten Rechten und Pflichten in Europa einzubinden, wurde das Land im Nato-Russland-Rat mit einer Statistenrolle abgespeist. Mit der völkerrechtswidrigen Anerkennung des Kosovo haben die USA und EU einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, der die Glaubwürdigkeit ihrer Kritik an Russlands Unterstützung für die abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien untergräbt. Und das "Raketenabwehrprojekt" in der Nähe zur russischen Westgrenze, auf das sich die USA und Polen am Donnerstag endgültig einigten und das von der Nato ausdrücklich unterstützt wird, setzt die Provokation Moskaus weiter fort.

Der Konflikt um die georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien und die Rechte der dort lebenden Minderheiten wäre längst gelöst, wäre er nicht Teil eines großen Energiepokers zwischen den USA, Russland und der EU im Kaspischen Becken und in Zentralasien. Dieser Poker begann, als sich die großen Ölkonzerne der USA nach dem Ende der Sowjetunion weitreichende Zugriffs- und Erschließungsrechte an den Öl- und Gasreserven in den zentralasiatischen Ex-Republiken der UdSSR sicherten [...].

Bleibt der Westen bei seiner Energiepolitik, werden dem Krieg in Georgien in den nächsten Jahren weitere heiße Kriege im Kaukasus oder Zentralasien folgen. USA, Nato und EU werden einem mächtigen Russland dann ähnlich hilflos, gespalten und handlungsunfähig gegenüberstehen wie jetzt.

Verändern lässt sich das nur, wenn sich der Westen so schnell wie möglich aus seiner sklavischen Abhängigkeit von Öl und Gas befreit, indem er die Energieeffizienz deutlich erhöht, den Pro-Kopf-Verbrauch an Energie drastisch reduziert und vor allem in weit größerem Ausmaß als bisher auf Sonne, Wind und andere erneuerbare und umweltfreundliche Energieträger umschaltet. Eine sinkende Nachfrage nach Öl und Gas würde nicht nur Russlands derzeitige Macht wieder relativieren. Sie würde das Land auch dazu nötigen, die eigene Wirtschaft und den Export zu diversifizieren, und die Macht der staatlichen Energiekonzerne, die innergesellschaftlich höchst problematisch ist, schwächen. Das würde auch die Bedingungen für eine Entwicklung Russlands zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verbessern.